Fanny Grötzinger
Fanny Grötzinger (*1863) lebte bis 1940 in einer Wohnung am Goetheplatz 1 im Stadtteil Wiehre. Ihr Ehemann Josef war bereits 1923 verstorben und von den fünf gemeinsamen Kindern erreichte nur die Tochter Martha das Erwachsenenalter. Diese führte durch ihre Heirat mit Dr. Robert Lais nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen eine sogenannte „privilegierte Mischehe“ und wurde 1940, ebenso wie Fanny Grötzingers Enkelin, Renate Lais, noch von der Deportation zurückgestellt.
Fanny Grötzingers Enkelin, Renate Citron-Lais, beschreibt ihre Großmutter rückblickend mit folgenden Worten:
“Sie hat sich gerne schön angezogen, sie hatte schon früh weiße Haare, oft trug sie schwarz und ein dunkles Lila, weil es sich schickte, auch lange Kleider. Sie war sehr fleißig und tüchtig, perfekt, alles erledigte sie schnell. Sie konnte wunderbar backen, gut häkeln und gut stricken. Sie war sehr temperamentvoll und sehr dominant und sie liebte mich über alles und bewunderte mich. Sie empfand sich als zu dick, sie hat gern gut gegessen. Sie war eine lebendige Frau und eine Dame, obwohl sie nur Volksschule hatte. Das empfand sie als Mangel. Ihre Mutter konnte keine deutschen Buchstaben, nur hebräisch. Sie hat es sehr bedauert, dass sie keine bessere Schulbildung hatte und hat dafür gesorgt, dass ihre Tochter Martha auf die Höhere Töchterschule gehen konnte, das heutige Goethe-Gymnasium in Freiburg. […]”
So wurde am Vormittag des 22. Oktobers nur die 77jährige Fanny Grötzinger von der Polizei verhaftet. Ihr Tochter und Enkelin konnten sie lediglich bis zur Sammelstelle am Annaplatz begleiten, von wo sie gegen 12 Uhr mittags zur Hebelschule im Stadtteil Stühlinger verschleppt wurde. Nach vielen Stunden des Wartens musste sie schließlich am Morgen des 23. Oktobers 1940 die lange und beschwerliche Fahrt ins Lager Gurs antreten.
Fanny Grötzingers Schwiegersohn, Robert Lais, schrieb die Ereignisse des 22. Oktobers 1940 und weitere Eindrücke der folgenden Kriegsjahre in einem Bericht nieder, den seine Tochter Renate erst viele Jahre später versteckt auf dem Dachboden ihres Hauses fand. Er schreibt:
“Am Dienstag vor 8 Tagen, dem 22.Oktober, erschienen morgens um zehn Uhr ein Hilfspolizist und ein nicht uniformierter Kriminalbeamter in meiner Wohnung. Sie erklärten, dass sie Befehl hätten, alle nicht arisch verheirateten Juden zu verhaften, dass diese innerhalb einer Stunde das Notwendigste an Kleidern, Wäsche und Essen (dies für 8 Tage) in einen Koffer packen müssten, den sie selbst tragen könnten. Meine Frau könne hier bleiben meine Schwiegermutter müsse mit. Alle Einwendungen und Bitten waren vergebens. […] Um 11 Uhr wanderten meine Frau, [Anm.: unsere Tochter] Renate und die Großmutter zum Annaplatz, wo einer der Sammelplätze war. Etwa um 12 Uhr wurden die Juden in Autos verladen und in eine der alten Eisenbahnwerkstätten an der Bahn, in der Wenzingerstraße gebracht. Von dort wurden sie abends auf den Bahnsteig transportiert. Der erste Transportzug konnte nicht alle fassen.
Meine Schwiegermutter gehörte zu den Zurückgebliebenen, in der Nacht wurden diese und andere inzwischen Verhaftete in der Turnhalle der Stühlinger Schule [Anm.: Hebelschule] untergebracht, wo sie auf Bänken schliefen oder weinend wachten. Am Vormittag des Mittwochs konnte meine Frau ihre Mutter noch einmal in der Turnhalle besuchen und ihr einiges bringen, was in der Eile vergessen worden war. Als wir am Nachmittag noch einmal dorthin gingen, war die Turnhalle leer. […]”
Lili Reckendorf wurde am 22. Oktober 1940 ebenfalls aus Freiburg deportiert und war Zeugin, wie Martha und Renate Lais ihre Mutter bzw. Großmutter Fanny Grötzinger zur Sammelstelle am Annaplatz begleiteten. Sie schildert die Szene in ihrem nachträglich verfassten Bericht wie folgt:
“Von […] Frl. Ä. hörte ich, dass am Annaplatz ein Autobus stand, der sich schon füllte. Eine alte Dame aus der Nachbarschaft wurde von ihrer Tochter hinbegleitet. Sie, die mit einem Arier verheiratet war und ein Kind hatte, konnte bleiben. Sie trug der Mutter das Gepäck. Kann man sich überhaupt vorstellen, was diese Menschen innerlich durchmachten? […]”
Über zwei Jahre wurde Fanny Grötzinger in den französischen Lagern Gurs und Noé, etwa 200 km östlich von Gurs, gefangen gehalten. Ihre Familie bemühte sich in dieser Zeit mit allen Mitteln, zumindest durch wenige, auf Umwegen verschickte Briefe mit ihr in Kontakt zu bleiben. Alle Versuche, eine Freilassung der alten Dame zu erwirken, blieben vergebens.
Die schrecklichen Lebensbedingungen und die andauernde Kälte im Lager Noé führten bei Fanny Grötzinger zu einer Lungenentzündung, an der sie am 2. Januar 1943 im Alter von 79 Jahren starb.
Dieser Todesschein für Fanny Grötzinger wurde am 14. Januar 1947 im Zuge ihres Restitutionsverfahrens vom Rathaus in Noé ausgestellt. Als Zeitpunkt ihres Todes wurde der 2. Januar 1943, 13 Uhr angegeben.
Im Zuge des Restitutionsverfahrens für Fanny Grötzinger musste Martha Lais noch sieben Jahre später in einer eidesstattlichen Erklärung vom 12. Juli 1956 die Deportation ihrer Mutter bezeugen.