Bertha Lenel
Lili Reckendorfs Schicksalsgenossin in Frankreich war Bertha Lenel, ihre Freiburger Nachbarin. Bertha Lenel wurde 1882 als älteste Tochter von Luise (*1857) und Prof. Dr. Otto Lenel (*1849) geboren. Schon ihre Eltern fühlten sich dem christlichen Glauben zugehörig und ließen auch ihre Tochter Bertha und ihre beiden Söhne, Paul und Rudolf Lenel, im Jahre 1886 protestantisch taufen.
Aufgrund ihrer „nichtarischen Abstammung“ erhielt Bertha Lenel, die bis dahin als Oberschwester in der Augenklinik des Universitätsklinikum Heidelberg tätig gewesen war, unter dem nationalsozialistischen Terror-Regime Berufsverbot. So kehrte Bertha Lenel 1933 in das Haus ihrer Eltern in der Holbeinstraße 5 im Stadtteil Unterwiehre zurück. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1935 lebte sie dort mit ihrer Mutter und deren Untermieterin, Lili Reckendorf.
Die Verhaftung und Deportation im Oktober 1940 erlebten die drei Frauen gemeinsam. Nur etwa zwei Wochen später, am 7./8. November 1940, führten die unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager Gurs zum Tod der 83-jährigen Luise Lenel.
In ihrem Buch „Helle Lichter auf dunklem Grund“ berichten Martha und Else Liefmann, zwei andere deportierte Freiburgerinnen, von Luise Lenels Beerdigung auf dem Lagerfriedhof von Gurs im November 1940:
“Dann starb die alte Frau L[enel]. […] Ich erinnere mich noch sehr gut an jene Beerdigung. Es war ein klarer, kalter Tag Anfang November. Sollte es denn nicht möglich sein, der Verstorbenen wenigstens einen kleinen Blumengruß ins Grab mitzugeben? Wir irrten auf dem Feld umher und fanden noch einige halberstarrte Blümchen als Reste des vergangenen Sommers. Pfarrer S., selbst ein Internierter, ließ sich noch schnell von der Tochter der Verstorbenen ein paar Daten aus ihrem Leben mitteilen, dann ratterte der Lastwagen mit dem Brettersarg heran. Vor einigen Jahren hatte man den Mann der Verstorbenen, eine Zierde seiner Universität, mit allen Ehren zu Grabe getragen; nun senkte man hier seine Frau in den nassen Grund des Lagerfriedhofs. War es nicht ein Glück für die alte Frau, dass sie so bald nach ihrer Ankunft zur Ruhe eingehen durfte? […]”
Am 19. Dezember 1940 bat der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg, Prof. Adolf Schönke, in diesem Brief an die Polizeidirektion Freiburg darum, das Haus der Lenels in der Holbeinstraße 5 einem Kollegen seiner Fakultät zu überlassen, der in Freiburg noch keinen neuen Wohnsitz gefunden habe.
Dieses Schreiben macht deutlich, dass die Stadtbevölkerung sich offensichtlich im Klaren darüber war, dass am 22./23. Oktober 1940 Mitbürger*innen aus Freiburg deportiert worden waren, und dass diese auf absehbare Zeit auch nicht mehr zurückkehren würden.
Bertha Lenel verblieb im Lager Gurs, bis auch sie im Juli 1942, gemeinsam mit Lili Reckendorf, in die Unterkunft der protestantischen Organisation „CIMADE“ in Le Chambon-sur-Lignon übersiedeln konnte. Im Sommer 1942 unternahm sie einen ersten Fluchtversuch, der allerdings scheiterte und sie für einige Tage in Gewahrsam der italienischen Grenzpolizei brachte. Nach diesem Erlebnis kehrte sie in die Unterkunft in Le Chambon-sur-Lignon zurück und war dort, wie schon zuvor im Lager Gurs als Krankenschwester tätig. So konnte sie immer wieder bei Familien in der Gemeinde untertauchen, bis Ende März 1944 Helfer*innen der „CIMADE“ schließlich auch ihr zur Flucht in die Schweiz verhalfen.
In ihren Erinnerungen berichtet Bertha Lenel auch von der Flucht in die Schweiz, die ihr beim zweiten Versuch im März 1944 durch die Hilfe von Fluchthelfer*innen der protestantischen Organisation „CIMADE“ glücklicherweise gelang. Sie schreibt:
“Ich bin nicht leicht [aus Le Chambon-sur-Lignon] gegangen, als die Scheidestunde schlug. […]
Es galt die Arbeit aus der Hand legen, die mir lieb war, und an die eigene Sicherheit denken,
an die die guten Menschen, deren Obhut ich anvertraut war, sehr viel früher, als ich selbst, gedacht hatten, denn mir drohte Gefahr. […] Nach kurzem Zögern habe ich die Reise angetreten, als Begleiterin einer alten und einer leidenden Dame, voller Zweifel zwar und bangen Herzens, ob sie dieses Mal glücken werde. Am 25. März früh morgens um 5.00 Uhr verließen wir das Haus, das uns in schwerster Zeit so freundlich Schutz gewährt hatte und uns fürderhin nicht mehr schützen konnte. Der Schnee lag tief, als wir gingen; gute Gefährten brachten uns zur Bahn. Von da ab waren wir die lange Fahrt in der treuen Hut eines Vertreters der CIMADE. Sie ist glücklich vorüber gegangen und auch das letzte schwerste Stück, die Fußwanderung quer durch einen Wald ohne Weg über Stock und Stein durch Dornen und Gestrüpp und Dickicht haben wir tapfer geschafft. Am Mittag des 29. März 1944 lag der Stacheldraht hinter uns. Wir waren in der Schweiz, nahe bei Genf.
Das Gefühl läßt sich nicht beschreiben, das einen überkommt, wenn plötzlich Not und Verfolgung ein Ende haben und man frei atmen kann.”
1948 kehrte Bertha Lenel nach Freiburg zurück, wo sie im Jahre 1973 im Alter von 91 Jahren verstarb.
Die „Aumônerie des Ètrangers Protestantes en France“, ein Verwaltungsorgan der protestantischen Kirche in Frankreich, bescheinigte Bertha Lenel in diesem Schreiben vom 23. Juni 1948 ihre Deportation ins Lager Gurs, wo sie unter anderem als Krankenschwester tätig gewesen ist. Auch ihre Zeit bei der „CIMADE“ in Chambon-sur-Lignon von Juli 1942 bis März 1944 sowie ihre anschließende Flucht in die Schweiz wurden dokumentiert.
Unter der französischen Besatzung nahm 1945 die „Badische Landestelle für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus“ ihre Arbeit auf. Mit diesem Schreiben vom 27. Dezember 1945 bescheinigte die Behörde Bertha Lenel den Status einer „ehemals rassisch Verfolgten“.