Cäcilie „Lili“ Reckendorf
Lili Reckendorf (*1889) war als Lehrerin in verschiedenen Städten in Baden-Württemberg angestellt, bis sie 1933 aufgrund ihrer Einstufung als „jüdisch“ nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen zwangspensioniert wurde. Daraufhin kehrte sie in ihre Freiburger Heimat zurück und mietete sich bei Luise und Bertha Lenel in der Holbeinstraße 5 im Stadtteil Wiehre ein.
Gemeinsam wurden die drei Frauen im Oktober 1940 verhaftet und ins Lager Gurs deportiert.
Ihre Erinnerungen an die Deportation ins Lager Gurs, ihre Zeit in Frankreich und ihre Flucht in die Schweiz im Jahre 1943 hielt Lili Reckendorf in einem ausführlichen Bericht fest. Über die Ereignisse des 22./23. Oktobers 1940 schreibt sie:
“Morgens um 9 kam ein Bote […], alle Juden – die sogenannten Nichtarier – würden gesammelt und müssten innert einer Stunde abreisen. Gepäck, was man tragen könne. […] Ich für meinen Teil war zunächst wie gelähmt. Ich dachte nicht an die Sorge für Proviant oder Geld. Ich lief wie geschlagen von einem Zimmer zum andern, den Blick auf die heimatlichen Berge, wie um alles noch einmal tief zu trinken: vom Münster ganz links über Schlossberg-Roßkopf-Brombergkopf bis zum Schauinslandgipfel rechts. […] Endlich um ½ 4 kamen die Polizeibeamten. […] Dann gingen wir zum Auto. Ich noch einmal an unserem Haus vorbei. Frau Amtsrichter K. begegnete uns. Hinter einem Vorhang bewegte sich eine Gestalt. Wir gingen stumm und tränenlos. […]
Gegen ½ 6 kamen wir in den Löwenbräukeller im Stühlinger. […] Es kamen Lörracher, Sulzburger, Eichstetter, Breisacher, etc. […] Etwa um 1 Uhr nachts wurden wir aufgerufen, um wieder hinunter zu gehen mit unseren Koffern. Diesmal standen Lastwagen mit Bänken bereit, wie man sie bei der Polizei benutzte. Natürlich war verdunkelt und kaum mehr Zuschauer zugegen. Der Wagenlenker […] wurde zu einem unauffälligen Eingang gewiesen, der von Laien nie benutzt, vom Stühlinger her auf den westlichen Bahnsteig führte. […]
Etwa gegen 2 Uhr morgens rollte ein Zug ein und brachte einen Sammeltransport von Konstanz, Gailingen, Mittelbaden, Offenburg, Lahr, Emmendingen. Er bestand ausschließlich aus französischen Wagen. […]
Der Zug fuhr aus Freiburg ab, zweigte gleich nach Westen. Es tut heute noch weh daran zu denken, wie er am Friedhof vorbei fuhr, wo die Eltern liegen, deren Grab ich 1936 neu erworben habe, um es für meine Urne zu sichern. Da fuhr man fort, ins „Elend“ hinein, in die unbekannte Fremde – Das war der schwerste Augenblick vom Tag -, wie es eben ist, wenn man sich etwas gewaltsam aus dem Herzen reißt. […]”
Aufgrund von Bemühungen der „CIMADE“, (franz.: Comité inter mouvements auprès des évacués) einer protestantischen Frauen-Organisation in Frankreich, erhielt Lili Reckendorf als getaufte Protestantin im Juli 1942 die Erlaubnis, in eine externe Unterkunft in Le Chambon-sur-Lignon in den Cevennen umzuziehen. In dem kleinen Dorf hugenottischen Ursprungs erinnert heute eine Gedenkstätte daran, wie die rund 5.000 Bewohner*innen der Region insgesamt ebenso vielen Verfolgten des Nationalsozialismus eine Unterbringung in Unterkünften oder Verstecken außerhalb der Internierungslager ermöglichten.
Lili Reckendorf blieb nur für einige Wochen in Le Chambon-sur-Lignon, bevor im August 1942 auch dieser Aufenthaltsort durch die drohenden Razzien und Deportationen nicht mehr sicher war. Nach kurzen Aufenthalten in verschiedenen Verstecken, wie zuletzt dem Kloster „Couvent de la Croix“ in den französischen Alpen, gelang durch den mutigen Einsatz von Fluchthelfer*innen der protestantischen Organisation „CIMADE“ am 23. Januar 1943 schließlich ihre gefährliche Flucht in die Schweiz.
Diese „Attestation de Résidence“ für Lili Reckendorf wurde im Juni 1945 von einer protestantischen Organisation in Südfrankreich ausgestellt und dokumentiert ihre Aufenthaltsorte, nachdem sie das Lager Gurs im Juli 1942 verlassen hatte. Als Tag ihrer Flucht „vor den Bedrohungen der Internierung und Deportation“ ist der 22. Januar 1943 angegeben.
Im Februar 1951 wurde Lili Reckendorf durch das Badische Ministerium für Finanzen offiziell bescheinigt, dass sie zu den „Verfolgten des Nationalsozialismus“ gehörte. Für die 20 Monate und 23 Tage, während der sie im Lager Gurs interniert war, wurde ihr eine Haftentschädigung von DM 3115,- zugesprochen.
Während ihrer Jahre in Basel verfasste Lili Reckendorf einen ausführlichen Bericht über ihre Deportation sowie ihre Zeit in Frankreich und kämpfte um die Rückerstattung ihres Eigentums.
1948 kehrte sie nach Freiburg zurück und starb dort 1952.
Während ihrer Zeit in Basel bemühte sich Lili Reckendorf um ihre Wiedereinstellung als Lehrerin in der französischen Besatzungszone. In einem Schreiben von September 1947 versicherte sie dem Untersuchungsausschuss nachdrücklich, dass sie nicht zu den Unterstützer*innen des Nationalsozialismus gehört habe, sondern zu den Opfern der Diktatur.
Die sogenannten „Wiedergutmachungsverfahren“ bedeuteten für die Opfer des Nationalsozialismus häufig einen langwierigen bürokratischen Prozess. So sah sich Lili Reckendorf noch im April 1951 gezwungen, in einer Eidesstattlichen Erklärung zu versichern, dass sie im Oktober 1940 ins Lager Gurs deportiert worden war.
Nach ihrem Tod im Jahre 1952 wurde Lili Reckendorfs Wunsch erfüllt: Sie wurde auf dem Hauptfriedhof im Grab ihrer Eltern beigesetzt. Im April 2011 wurde die Grabstätte in den Ehrenhain des Freiburger Hauptfriedhofes versetzt, wo heute außerdem eine kleine Gedenktafel an die Familie erinnert.