Von Freiburg ins Lager Gurs
Auch in Freiburg wurden ab den frühen Morgenstunden des 22. Oktobers 1940, dem sechsten Tag des jüdischen „Laubhüttenfestes“ Sukkot, diejenigen Personen von Polizei- und Verwaltungskräften verhaftet und abgeholt, die nach den nationalsozialistischen „Rassegesetzen“ als jüdisch galten. Innerhalb kürzester Zeit – in der Regel etwa einer Stunde – mussten die meist völlig ahnungslosen Menschen das Nötigste zusammenpacken, ihre Wohnungen verlassen und sich an zentralen Plätzen in den jeweiligen Stadtteilen einfinden.
Der Freiburger Polizeidirektor, Günther Sacksofsky, fasste die Ereignisse des 22./23. Oktober 1940 aus Sicht der Polizeibehörde in einer knappen Aktennotiz zusammen:
Anschließend wurden die dort versammelten Personen, Erwachsene und Kinder, vor den Augen der Stadtbevölkerung mit Bussen und Lastwagen zur Hebelschule und zur Löwenbrauerei im Stadtteil Stühlinger transportiert. Den ganzen Tag über wurden Menschen aus Freiburg und der Region zu diesen beiden Sammelstellen verschleppt.
Laut seiner Stellungnahme von Oktober 1957 wurde der Notar J. Holler einige Tage vor der Oktoberdeportation vom Chef der Freiburger Gestapo damit beauftragt, am 22. Oktober 1940 in der Hebelschule Vollmachten von den zu deportierenden Freiburger Bürger*innen entgegenzunehmen. Durch diese Vollmacht wurden alle ihre Vermögensrechte an die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ übertragen, bei der es sich um eine Organisation unter nationalsozialistischer Führung handelte. Notar Holler beschrieb die Vorkommnisse rund um den 22. Oktober wie folgt:
“[…] An einem mir nicht mehr genau erinnerlichen Tag, vermutlich war es der 21. Oktober vormittags, erschienen auf meinem Büro 2 Herren in Zivil, von denen sich der Eine als Leiter der Gestapo Freiburg unter Vorzeigen seines Ausweises vorstellte. Dieser überbrachte eine schriftliche Aufforderung […] vom Badischen Finanzministerium an den Dienstvorstand des Notariats, am folgenden Tage von den Juden, welche ausgewiesen würden, Vollmachten entgegenzunehmen. […]
Am anderen Morgen um 7 Uhr würden sämtliche Juden in Freiburg und Umgebung festgenommen und zunächst in das Schulhaus des Stadtteils Stühlinger […] gebracht, von wo sie später wegtransportiert würden. Das Notariat habe sich alsbald morgens um 7 Uhr in das Schulhaus Stühlinger zu begeben und dort von jedem der festgenommenen Juden eine Vollmacht unter Benutzung des überreichten Formulars aufzunehmen. Das Formular lautete auf die ‚Reichsvereinigung der deutschen Juden‘ und enthielt als Text eine Bevollmächtigung ähnlich wie die üblichen Generalvollmachten. Danach sollte diese Reichsvereinigung ermächtigt werden, alle Vermögensangelegenheiten des Vollmachtsgebers zu besorgen. […] Die Aktion sei höchstes Staatsgeheimnis. […]
Am 22. Oktober zur vorgeschriebenen Stunde war ich im Stühlinger Schulhaus und musste den furchtbaren Jammer der morgens in aller Früh aus dem Schlaf gerissenen Männer und Frauen miterleben. […] Ich begab mich zu den einzelnen unter Bewachung von Gestapoleuten in den Schulräumen untergebrachten Leuten und eröffnete ihnen, dass ich vom Justizministerium beauftragt sei, Vollmachten auf die Vereinigung der deutschen Juden aufzunehmen, ein Rechtsgebilde, von welchem weder die Juden noch ich bis dahin eine Ahnung gehabt haben. […] Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, haben ca. 160 Personen beiderlei Geschlechts die von mir ausgefüllten Vollmachtsformulare unterzeichnet und ich dann ihre Unterschrift beglaubigt. […]”
Bis tief in die Nacht oder sogar bis zum nächsten Morgen mussten die Menschen im Schulhaus und der Brauerei ausharren, bevor sie zu einem Nebengleis des Hauptbahnhofs gebracht wurden und in Personenzüge mit unbekanntem Zielort einsteigen mussten. So wurden am 22./23. Oktober 1940 etwa 379 Bewohner*innen der Stadt Freiburg in einer qualvollen dreitägigen Fahrt in das südfranzösische Lager Gurs deportiert.
Nebengleis des Freiburger Hauptbahnhofs mit Gebäuden zur Güterabfertigung. Von einem solchen Nebengleis wurden die Freiburger Bürger*innen in den frühen Morgenstunden des 23. Oktobers 1940 mit Personenzügen in Richtung Frankreich deportiert.
Else und Martha Liefmann aus Freiburg hielten ihre Erinnerungen an die Deportation ins Lager Gurs 1940 nachträglich in ihrem Buch „Helle Lichter auf dunklem Grund“ fest:
“Es war am 22. Oktober 1940, morgens gegen 9 Uhr, als es schrill an unserer Hausglocke läutete. Gleich darauf hörten wir Männerstimmen, und schon standen zwei Leute in unserem Zimmer: ‚Machen Sie sich fertig, in einer Stunde haben Sie das Haus zu verlassen. Sie können mitnehmen, was jeder tragen kann, auch etwas zu essen.‘ Auf unsere bestürzte Frage, was denn mit uns beabsichtigt sei, zuckten sie die Achseln. […] Wie wir die letzten Minuten in unserem Heim verbrachten, weiß ich nicht mehr. Zwei Freundinnen kamen noch aus der Nachbarschaft; sie hatten von der Maßnahme gehört. Unser Bruder sagte: ‚Wir sehen uns nicht wieder, das ist der Tod.‘ Für seinen Teil hat er recht behalten.
[…] Nachdem wir in einem Schulhaus in unserer Heimatstadt bis nachts zwei Uhr gefangengehalten wurden, kam plötzlich das Kommando: ‚Alle mit dem Gepäck antreten!‘ Draußen im Schein einiger Lichter wurden die Namen aufgerufen, Autobusse standen bereit, uns nach dem Güterbahnhof zu bringen. Dann endlich kam ein langer Zug mit leeren Wagen. Vor uns hielt ein Wagen zweiter Klasse. So hatten wir noch Glück im Unglück. Und wenn ich daran denke, wie man ein und zwei Jahre später die Deportierten in plombierten Viehwagen nach Polen transportierte, so muss man sich beinahe über so viel ‚Menschlichkeit‘ wundern.”
Die folgende Liste wurde 1990 von Stefanie Steiert zusammengestellt und vom Presse- und Informationsamt der Stadt Freiburg herausgegeben. Sie umfasst 360 Namen deportierter Freiburger Bürger*innen und kann somit nach heutigem Kenntnisstand keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Anlässlich des 60. Jahrestages der Oktoberdeportation ins Lager Gurs startete das damalige Kulturreferat Freiburg im Jahr 2000 einen öffentlichen Aufruf in der Badischen Zeitung, um die Erinnerungen von Zeitzeug*innen an dieses Ereignis zu dokumentieren. Als Reaktion auf diesen Aufruf meldeten sich nur elf Personen.
Im Auftrag des Stadtarchivs führte der Historiker Andreas Lauble anschließend mit vier ausgewählten Zeitzeug*innen ausführliche Interviews, die aufgezeichnet und nachträglich transkribiert wurden.
Die folgenden Ausschnitte aus diesen Gesprächen zeigen deutlich, dass sich die Deportation 1940 tatsächlich vor den Augen und mit dem Wissen der Freiburger Stadtbevölkerung ereignete.