Was bleibt?

“Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wider, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und es zu begreifen.”

Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, 1950

Hannah Arendt war eine deutsche Jüdin.

Sie ist vor den Nazis in die USA geflohen.

Sie war Journalistin und Hochschul-Lehrerin.

Sie ist 1975 in New York gestorben.

In ihrem Text schreibt sie:

Die Deutschen trauern nicht um die ermordeten Juden.

Sie weigern sich darüber nachzudenken.

Auch das Schicksal der Flüchtlinge ist ihnen egal.

Sie fragt sich:

Haben die Deutschen keine Gefühle?

“Und wie oft waren Leute verblüfft: ‚Wie, die sind zurückgekommen? Dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein.’ Einige Jahre später, 1950 oder 1951, hat ein französischer Beamter bei einem Empfang in einer Botschaft mit dem Finger auf die Häftlingsnummer gezeigt, die ich auf meinem Unterarm eintätowiert habe. Er hat mich lächelnd gefragt, ob das da meine Garderobennummer sei! Ich muss dazusagen, dass es ein hochrangiger Beamter war. Nach der Begegnung habe ich jahrelang lieber langärmlige Sachen angezogen. In diesen Nachkriegsjahren sagten die Leute überhaupt ganz schreckliche Sachen. Wir haben all den unterschwelligen Antisemitismus heute vergessen, den einige damals offen herausposaunten. Ich bin nach 1945 zwar nicht zynisch geworden, das entspricht nicht meinem Charakter, aber ich wurde all meiner Illusionen beraubt. Trotz aller Filme, aller Zeitzeugenberichte und aller Schilderungen: Die Shoah bleibt ein absolut eigenes und komplett unzugängliches Ereignis.”

Simone Veil, Ein Leben, 2007

Simone Veil hat in Frankreich gelebt.

Sie war Jüdin.

Die Nazis haben sie in ein KZ verschleppt.

Als der Krieg zu Ende war wurde sie befreit.

Sie war danach Ministerin für Gesundheit und Soziales.

Später war sie Präsidentin des Europäischen Parlaments.
Simone Veil ist 2017 in Paris gestorben.

Sie schreibt hier:

Die Nazis haben allen Juden Nummern auf den Unterarm tätowiert.

Auch Simone Veil hatte so eine Nummer.

Nach dem Krieg hat ein wichtiger Beamter ihre Tätowierung gesehen.

Er hat Simone Veil gefragt:

Ist das Ihre Garderoben-Nummer?

Das war eine grausame Frage.

Denn der Mann hat genau gewusst was so eine Nummer bedeutet.

Sie hatte viele so furchtbare Erlebnisse.

Für Simone Veil war damit klar:

Die Ermordung von 6 Millionen Juden hat nichts in den Köpfen der Menschen verändert.

“Anhalten vor einem kleinen Bauernhaus, wo eine ältere Frau, einen Trog vor sich, kleine Wäsche wäscht. Neues Fragen. Sie sind ja hier in Gurs, sagt das Weib, blickt nicht auf von seiner Arbeit. Räuspern. Es ist die alte Verlegenheit: gewisse Dinge sollen nicht ausgesprochen werden, man macht sich so leicht verdächtig. Ob es hier denn nicht in den Jahren unmittelbar vor dem Kriege und während seiner ein großes Lager gegeben hätte, le Camp de Gurs? Bien sûr. Durch nichts ist die Frau zu bewegen, aufzuschauen, Anteil zu nehmen an des Reisenden verzweifeltem Suchen. Und wo das gewesen sei? Nun wendet sie sich endlich dem Fragenden zu, deutet mit der zerknitterten, tiefgebräunten Hand über ein weites Feld, Wiesen, Äcker, Sträucher, vereinzelte Kastanienbäume. [...] Hier, sagt die Frau, hier lag das Camp de Gurs. Die Spuren sind alle erloschen. Nicht ohne Entsetzen und eine tiefe Todesangst denkt der Besucher: Gras ist gewachsen über meine Vergangenheit; es ist wirklich Gras gewachsen, ich dachte immer, das sei nur eine Redensart. Gras. Und: Merci! Die Bäuerin steht längst wieder gebückt vor ihrem Trog und wäscht mit einem Fleiß, als gelte es, die Zeit wegzuwaschen.”

Jean Améry, Örtlichkeiten, 1980, posthum

Jean Améry war ein Jude aus Wien.

Wien ist die Haupt-Stadt von Österreich.

Die Regierung dort hat mit Hitler zusammengearbeitet.

Deshalb ist Jean Améry nach Belgien geflohen.

Dort wurde er von den Nazis verschleppt:

  • Zuerst nach Gurs
  • Später in ein KZ

 

Nach seiner Befreiung hat er Bücher geschrieben.

Er reiste später noch einmal nach Gurs.

Das Lager war nicht mehr da.

Nur Wiesen und Sträucher.

Er hat eine alte Frau getroffen.

Sie hat von dem Lager gewusst.
Aber sie hat kein Mit-Gefühl gezeigt

Jean Améry hat gedacht:

Über meinem Schicksal ist Gras gewachsen.
Jean Améry machte 1978 Selbstmord.

“Im schweigsamen Nebeneinander mit dem nichtjüdischen Umfeld versuchte die jüdische Gemeinschaft aus dem Überleben ein Leben zu formen. – Ein Leben, das sechs Millionen Töchtern, Söhnen, Brüdern, Schwestern, Müttern, Vätern, Großeltern genommen wurde. Ein Leben in Trauer. In Schmerz. In Wut. Ein Leben in Deutschland. Aber: Heimat ist Heimat. […] Ich muss Ihnen nicht die Chronologie antisemitischer Vorfälle in unserem Land darlegen. Sie erfolgen offen, ungeniert – beinahe täglich. Verschwörungsmythen erfahren immer mehr Zuspruch. Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen. Ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo. Und natürlich: im Internet – dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art. […] Verehrte Damen und Herren, abschließend noch drei Gedanken: Der Erste gilt den Millionen Opfern, derer wir heute gedenken. Sie sind in unseren Herzen. Sie werden nicht vergessen. Niemals! Der zweite gilt den Zeitzeugen. Viele haben an diesem Pult von unfassbarem Grauen berichtet. Wir geben jetzt den Stab der Erinnerung an Sie ab – im Vertrauen, ihn in gute Hände zu legen. Vergessen Sie uns nicht! Der dritte gilt den jungen Menschen: Es gibt keinen besseren Kompass als Euer Herz. Lasst euch von niemandem einreden, wen Ihr zu lieben und wen Ihr zu hassen habt!”

Charlotte Knobloch, Rede zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021

Charlotte Knobloch ist Jüdin.
In der Nazi-Zeit hat sie in München gelebt.

Sie hat sich vor den Nazis versteckt.

Nach dem Krieg hat sie Juden geholfen.

Ihr Ziel war:

Überall sollen Juden wieder normal leben können.

Sie war Präsidentin vom Zentralrat der Juden in Deutschland.

Sie lebt heute wieder in München.

In ihrer Rede sagt sie:

Auch heute gibt es wieder Juden-Hass.

  • In Schulen
  • Im Internet
  • Auf Corona-Demonstrationen

 

Sie bittet alle Menschen:

Höre auf Dein Herz.

Lass Dir nicht befehlen:

  • Wen Du lieben sollst
  • Wen Du hassen sollst