Was bleibt?

“Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wider, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und es zu begreifen.”

Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, 1950

Hannah Arendt, 1906 in der Nähe von Hannover geboren, floh bereits 1933 nach Frankreich. 1940 in Gurs interniert, konnte sie über Lissabon in die USA entkommen. Dort unterrichtete sie an verschiedenen Universitäten politische Theorie. Sie wurde zu einer bekannten öffentlichen Intellektuellen. Sie starb 1975 in New York.

“Und wie oft waren Leute verblüfft: ‚Wie, die sind zurückgekommen? Dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein.’ Einige Jahre später, 1950 oder 1951, hat ein französischer Beamter bei einem Empfang in einer Botschaft mit dem Finger auf die Häftlingsnummer gezeigt, die ich auf meinem Unterarm eintätowiert habe. Er hat mich lächelnd gefragt, ob das da meine Garderobennummer sei! Ich muss dazusagen, dass es ein hochrangiger Beamter war. Nach der Begegnung habe ich jahrelang lieber langärmlige Sachen angezogen. In diesen Nachkriegsjahren sagten die Leute überhaupt ganz schreckliche Sachen. Wir haben all den unterschwelligen Antisemitismus heute vergessen, den einige damals offen herausposaunten. Ich bin nach 1945 zwar nicht zynisch geworden, das entspricht nicht meinem Charakter, aber ich wurde all meiner Illusionen beraubt. Trotz aller Filme, aller Zeitzeugenberichte und aller Schilderungen: Die Shoah bleibt ein absolut eigenes und komplett unzugängliches Ereignis.”

Simone Veil, Ein Leben, 2007

Simone Veil, 1927 in Nizza geboren, wurde 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit. Nach dem Krieg engagierte sie sich in der französischen Politik, wurde Gesundheits- und Sozialministerin. 1979 wurde sie Präsidentin des Europäischen Parlaments. Sie starb 2017 in Paris.

“Anhalten vor einem kleinen Bauernhaus, wo eine ältere Frau, einen Trog vor sich, kleine Wäsche wäscht. Neues Fragen. Sie sind ja hier in Gurs, sagt das Weib, blickt nicht auf von seiner Arbeit. Räuspern. Es ist die alte Verlegenheit: gewisse Dinge sollen nicht ausgesprochen werden, man macht sich so leicht verdächtig. Ob es hier denn nicht in den Jahren unmittelbar vor dem Kriege und während seiner ein großes Lager gegeben hätte, le Camp de Gurs? Bien sûr. Durch nichts ist die Frau zu bewegen, aufzuschauen, Anteil zu nehmen an des Reisenden verzweifeltem Suchen. Und wo das gewesen sei? Nun wendet sie sich endlich dem Fragenden zu, deutet mit der zerknitterten, tiefgebräunten Hand über ein weites Feld, Wiesen, Äcker, Sträucher, vereinzelte Kastanienbäume. [...] Hier, sagt die Frau, hier lag das Camp de Gurs. Die Spuren sind alle erloschen. Nicht ohne Entsetzen und eine tiefe Todesangst denkt der Besucher: Gras ist gewachsen über meine Vergangenheit; es ist wirklich Gras gewachsen, ich dachte immer, das sei nur eine Redensart. Gras. Und: Merci! Die Bäuerin steht längst wieder gebückt vor ihrem Trog und wäscht mit einem Fleiß, als gelte es, die Zeit wegzuwaschen.”

Jean Améry, Örtlichkeiten, 1980, posthum

Jean Améry, 1912 in Wien geboren, emigrierte 1938 nach Belgien. 1940 wurde er in Gurs interniert. Ihm gelang die Flucht zurück nach Belgien. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und in die Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen deportiert. Nach der Befreiung arbeitete er als Schriftsteller und wurde zu einem einflussreichen Intellektuellen. Er nahm sich 1978 in Salzburg das Leben.

“Im schweigsamen Nebeneinander mit dem nichtjüdischen Umfeld versuchte die jüdische Gemeinschaft aus dem Überleben ein Leben zu formen. – Ein Leben, das sechs Millionen Töchtern, Söhnen, Brüdern, Schwestern, Müttern, Vätern, Großeltern genommen wurde. Ein Leben in Trauer. In Schmerz. In Wut. Ein Leben in Deutschland. Aber: Heimat ist Heimat. […] Ich muss Ihnen nicht die Chronologie antisemitischer Vorfälle in unserem Land darlegen. Sie erfolgen offen, ungeniert – beinahe täglich. Verschwörungsmythen erfahren immer mehr Zuspruch. Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen. Ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo. Und natürlich: im Internet – dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art. […] Verehrte Damen und Herren, abschließend noch drei Gedanken: Der Erste gilt den Millionen Opfern, derer wir heute gedenken. Sie sind in unseren Herzen. Sie werden nicht vergessen. Niemals! Der zweite gilt den Zeitzeugen. Viele haben an diesem Pult von unfassbarem Grauen berichtet. Wir geben jetzt den Stab der Erinnerung an Sie ab – im Vertrauen, ihn in gute Hände zu legen. Vergessen Sie uns nicht! Der dritte gilt den jungen Menschen: Es gibt keinen besseren Kompass als Euer Herz. Lasst euch von niemandem einreden, wen Ihr zu lieben und wen Ihr zu hassen habt!”

Charlotte Knobloch, Rede zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021

Charlotte Knobloch, 1932 in München geboren, überlebte den Holocaust im Versteck und unter falscher Identität auf dem Land. Nach 1945 beteiligte sie sich am Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland und Europa. 2006 wurde sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie lebt heute in München.